Medizinische Versorgung von wohnungslosen Menschen:
Ein Beispiel für eine patientenorientierte, ganzheitliche und kostensparende Medizin
Prof.Dr. Gerhard Trabert
Wohnungslosigkeit als Extremform von Armut
Ein Vergleich und eine Analyse der mittlerweile vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen zur Gesundheitssituation der ca. 150.000 wohnungslosen Menschen in Deutschland zeigt zum einen eine hohe Morbiditätsquote (ca. 80% sind dringend behandlungsbedürftig, bei ca. 70% liegt eine Multimorbidität vor) und zum anderen eine unzureichende medizinische Versorgung auf.
Haupterkrankungen sind: Erkrankungen der Atmungsorgane, Erkrankungen der Verdauungsorgane, Erkrankungen des Herz- Kreislaufsystems und Hautkrankheiten. Verletzungen aufgrund von Straßenverkehrs- oder Arbeitsunfällen sowie akute Infektionskrankheiten spielen ebenfalls eine dominierende Krankheitsrolle. Des Weiteren sind psychiatrische Erkrankungen sowie die Alkoholkrankheit mit ihren Folgeerkrankungen hervorzuheben.
Wohnungslose Menschen suchen, aus verschiedenen Gründen (große Hemmschwelle, negative Erfahrungen mit medizinischem Fachpersonal, umständliche Sozialbürokratie, Praxisgebühr, Zuzahlungen, weil sie glauben gesund zu sein), die bestehenden Gesundheitseinrichtungen des Regelversorgungssystems nicht auf. Aus diesem Grund wurde das Konzept der niedrigschwelligen interdisziplinären medizinischen Versorgung entwickelt und praktisch umgesetzt (Mainzer Modell der medizinischen Versorgung wohnungsloser Menschen).
Niederschwellig angelegte medizinische Sprechstunden bedeutet, dass an den Treffpunkten, institutionellen Einrichtungen, an denen sich die Betroffenen in der Regel aufhalten (sozialen Beratungsstellen, sozialen Brennpunkten, Wohngebieten usw.), eingebettet in ein interdisziplinär angelegtes Versorgungskonzept (Sozialarbeit und Medizin – Case Management) ein Versorgungsangebot installiert wird. Dies beinhaltet eine „Überwindung“ der Komm-Struktur (Patient kommt zum Arzt) und Praktisierung einer Geh-Struktur (Arzt geht zum Patienten).
Dieses spezielle Hilfsangebot („Mainzer Modell“) stellt keinen Ersatz für die medizinische Normalversorgung dar. Der Anspruch der Reintegration ins medizinische „Normalversorgungssystem“ ist wesentlicher Bestandteil dieses komplementären Hilfsangebotes. Die Erfahrungen (seit 1995) im „Mainzer Modell“ sind durchgehend positiv. Die Sprechstunden werden von den Betroffenen mit stetig steigender Zahl wahrgenommen. Diagnostik und Therapie können somit oft frühzeitig einsetzen und damit ein Fortschreiten von Krankheit verhindern. Oft werden hierdurch später notwendige stationäre Behandlungen abgewendet und damit auch Kosten gespart. Eine Reintegration in das bestehende Gesundheitssystem ist über solche niedrigschwellige Versorgungsangebote erleichtert und oft konkret möglich. Dieser patientenorientierte, ganzheitliche und hierdurch auch kostensparende Versorgungsansatz könnte somit auch wegweisend für die medizinische Versorgung anderer Patientengruppen sein.